Texte über die Arbeitsweise von Martin-Ulrich Ehret

Bäume-Bilder 1990-2000

von Dr. Marc Gundel

I.
Langsamkeit, Nachhaltigkeit und Intensität werden im schnelllebigen Kunstbetrieb nicht eben groß geschrieben. Daher überrascht, dass sich immer mehr zeitgenössische Künstler diesen Kategorien verpflichtet fühlen. Martin-Ulrich Ehret, geboren 1955, sucht seit nunmehr fünfzehn Jahren eine nahezu mönchhafte Zwiesprache mit seinen Bildern. Seine heute starkfarbigen Gemälde entstehen behutsam und tastend, mitunter erstreckt sich die Bildgenese über Jahre.

Dementsprechend exklusiv – in Bezug auf Umfang und Rezeption gleichermaßen – ist sein Werk.
Ehrets stilistischer Ausgangspunkt ist die sogenannte „Wilde Malerei“. Künstler wie beispielsweise Rainer Fetting (geb. 1949), Lambert Maria Wintersberger (geb. 1941) oder Bernd Zimmer (geb. 1948) malten nach einer Phase der konzeptuellen und minimalistischen Kunst Ende der 1970er Jahre wieder spontan, emotional und sinnlich, ohne mit ihren Bildern einen Avantgarde- oder Theorieanspruch zu verbinden. Von dieser Kunstrichtung ausgehend, hat Ehret eine ihm adäquate Methode und Ausdruckssprache entwickelt. In der Darstellung von Natur fand Martin-Ulrich Ehret ein Thema, das ihn bis heute fasziniert. Die menschliche Figur, ein zentrales Motiv der „Jungen Wilden“, schien Ehret nach eigenem Bekunden erschöpft; in Bäumen entdeckte er vergleichbare körperliche und tektonische Qualitäten. Die Kompositionsmuster aus vertikalen und horizontalen Achsen sowie Diagonalen wird in den Bildern der späten 1980er Jahre auf seine Variabilität untersucht. Die Lösungen reichen von ausschnitthaften Nahansichten mit Verästelungen und Stammdetails und lichtdurchfluteten Baumgruppen bis zu horizontalen Schichtungen. Dabei lösen sich die räumlichen Kategorien von oben und unten auf, was Ehrets Vorgehensweise beim Mal-Akt entspricht, die den Wechsel des Formats einschließt und die Arbeitsschritte auf der Rückseite der Leinwand mit Datum festhält. 1992 verlagert sich Ehrets Interesse von der äußeren Form des Stammes hin zu dessen innerem Aufbau. Dies hat nicht nur Auswirkungen auf die Formate, die aufgrund dieser Fokussierung nun dem Quadrat nahekommen. Die Bilder werden vielschichtiger und im Zentrum kleinteiliger. In der Mehrzahl der Gemälde wirken die Bäume wie geschält, ihr Innenleben mit Rinde und Lebenslinien liegen offen. Was diese Gruppe von früheren Arbeiten ferner unterscheidet, ist das vermeintliche Fließen der Formen. Dadurch wird das offene und prozessuale Moment betont.

Einige Gemälde wirken wie eine Synthese aus Informel und abstraktem Expressionismus, wie ihn die amerikanischen Maler Clifford Still (1904-1980) und Hans Hofmann (1880-1966) repräsentieren. Andere Arbeiten thematisieren den Gegensatz von Binnenformen und illusionistisch ins Bild gesetzten geometrischen Körpern.
bild 1 1Baumrad
1994
Öl / Leinwand
90 x 75 cm

Mitte der 1990er Jahre kündigt sich in den Gemälden eine weitere Akzentverschiebung an. Bereits die Titel verweisen auf Wasser als vom Künstler neu hinzugewonnenes Element. Mit dem Wasser verbunden ist eine Bereicherung des Formrepertoires um schnecken- und muschelähnliche Formen sowie eine breitere, bunte Farbpalette. Ehrets Augenmerk konzentriert sich nun auf Licht und Wasser als Voraussetzungen von Wachstum. In der Rückschau scheint dieser Schritt folgerichtig: stand zunächst das „natürliche“ Bauprinzip eines Baumes im Vordergrund, rückt daraufhin dessen organisches Innenleben ins Blickfeld. In seiner aktuellen Produktion thematisiert Ehret die Bedingungen und das Entstehen von Wachstum in der Natur überhaupt.
Vergleicht man das Frühwerk mit den neuesten Arbeiten, weicht die zu Beginn an die Natur angelehnte und damit nahezu monochrome Farbpalette von Braun und Grün einem Spektrum, das auf Vielfalt angelegt ist und nun keine Farbe mehr ausschließt.
Der Farbauftrag wirkt stärker lasierend, erlaubt Transparenz und assoziiert Vielschichtigkeit. Darüber hinaus sind die Formen auf den seit 1996 entstandenen Gemälden kleinteiliger, konturloser und dadurch fließender, was den Eindruck von (innerer) Bewegtheit erzeugt.

II.
In den Gemälden der späten 1990er Jahre ist das ursprüngliche Thema soweit gestalterisch verklärt, dass dieser Darstellung nur mit Mühe zwei vertikale Baumstämme abgelesen werden können. Bereits im Frühwerk wird das Fiktionale der Darstellung durch ein Bild-im-Bild betont. Den Arbeiten von Martin-Ulrich Ehret ist keine Gegenständlichkeit vorgegeben, die Dingwelt ergibt sich vielmehr aus dem Malprozess. Die Farbe ist folglich Ehrets primäres Gestaltungsmittel; ihr Einsatz erfolgt spontan und emotional. Ehret lotet die malerischen Möglichkeiten und die Sinnlichkeit der Farbe ebenso aus wie die Wirkung als physische und psychische Energie. Beim Mal-Akt tritt er in einen aus der Kunst des Informel bekannten geistigen und körperlichen Dialog mit Farbe und Leinwand. In gleichem Maße wie die Farbe lässt der Pinselduktus Raum für Selbstausdruck. Im Gegensatz dazu erfüllt die Form regulierende Aufgaben und dient der Reflexion. Auch um der Unverbindlichkeit eines ungegenständlichen Bildgefüges zu begegnen und die kompositorische Balance zu wahren, zitiert Ehret Gegenstände, die ihm wichtig sind. Dadurch entziehen sich die Gemälde einer Festlegung auf eine verbindliche stilistische Position, wie sie von der Avantgarde bis in die 1970er Jahre gefordert wurde.
Gleichfalls müssen seine Bilder nicht in einem Theoriezusammenhang erklärt werden – sie sind selbstverständlich. Durch diese Selbstverständlichkeit als Kunst erlangen Ehrets Arbeiten die Freiheit und Aura des „Schönen“ wieder, die in der Diskussion um die Avantgarde verloren ging. Das kann bedeuten, malerische Pinselstrukturen, kompositorische Ausgewogenheit und Harmoniebrechungen miteinander zu vereinen oder vibrierende, vielschichtige Farbklänge als Ausdruck einer wiedererlangten Sinnlichkeit und Harmonie mit subjektiver Handschrift zu erzielen. Dabei kulivieren Ehrets Bilder keine peinture französischer Tradition. Ihre Leidenschaftlichkeit und ihre mitunter sperrige Schwerblütigkeit weist sie als deutsche Kunst aus.
bild 1 2Lichtung II
1993
Öl / Leinwand
82 x 71 cm

III.
Obwohl die reine Malerei in Ehrets Werk den Vorrang hat, vermitteln seine Bilder eigene Erfahrungen und dadurch Inhalte. Hinter Ehrets Auseinandersetzung mit Natur sowie dem Entstehen und den Bedingungen von Wachstum verbirgt sich die Faszination einer sich stets erneuernden, zeitlos wirksamen Kraft. Die Vielfalt und Schönheit der Natur ist dem Künstler Maßstab und Verpflichtung, ohne ihrer Ganzheit gerecht werden zu können. Daher konzentriert sich Ehret auf die Visualisierung von Energien und Triebkräften der Natur. Damit berührt er ein Thema, das in der deutschen Kunst seit jeher eine besondere Rolle spielt. So erklärt der abstrakte Maler Fritz Winter (1905-1976): „Man muss die Zusammenhänge finden, denn auch das Kleinste ist Abbild des Großen“. Mit dieser Idee der Spiegelung des Makro- im Mikrokosmos knüpft Martin-Ulrich Ehret ebenso an die Tradition romantischer Kunst an wie mit der Auffassung von Natur als Gegenwelt zu unserem (materialistischen) Dasein.
bild 1 3Fingerbäume
2000
Öl / Leinwand
140 x 180 cm

Zugleich stehen Ehrets Arbeiten in enger Beziehung zur zeitgenössischen Malerei.
So hat beispielsweise die Ausstellung „Das Abenteuer der Malerei“, die 1995/96 im Kunstverein für die Rheinlande und Westfalen sowie im Württembergischen Kunstverein Stuttgart zu sehen war, (malerische) Positionen vorgestellt, mit denen Ehret sowohl die Lust am Sehen und an der Beobachtung als auch den prozessualen, offenen Bildcharakter teilt. Darüber hinaus findet sich in der „Unvordenklichkeit“ der Bilder eine Gemeinsamkeit. Innerhalb der zeitgenössischen Malerei existiert kaum mehr eine feste Bildvorstellung ; die Bildgenese wird wesentlich davon geprägt, was vor dem „inneren Auge“ des Künstlers entsteht. Für Martin-Ulrich Ehret bedeutet dies: Seine Gemälde wachsen und werden im Einklang mit der Natur.

Stuttgart, 2000

Man möchte von der Unendlichkeit der Farbe sprechen.

Die frühen Ölbilder des Martin-Ulrich Ehret

von Klaus-Ulrich Böttcher

Man kommt zu ihnen über eine Schwelle ungeheurer Farbigkeit. Diese intensiven, leuchtenden, ausgefallenen Farbkompositionen in mittlerem und großem Format wirken schon auf große Distanz. Sie fügen sich in scheinbar einfache Ordnungen, zeigen große Strukturen vor, die das Auge halten, führen und so Erfahrungen ermöglichen. Großzügigkeit spricht vom ersten Augenblick aus den Bildern; fast menschliche Proportionen bieten sich dem Blick. So farbig- fantasievoll die Bilder sind, sie wollen keine Intimität, nicht Verinnerlichung, sondern man tritt ihnen gegenüber und misst sich an ihnen, während sie sich öffnen.
bild 2 1Romantisches Baumquartett
1990
Öl / Leinwand
130 x 110 cm

Das ist ein langer Prozess. Bei näherem Betrachten entwickeln die Bilder eine seltsame Lebhaftigkeit, nicht wild, nicht sprunghaft, nicht plakativ oder reißerisch, sondern schwer wie aus reicher Meditation. Die Farben lagern aneinander, oft in kleinen Flecken, überdecken, widersprechen sich, schaffen Zentren von Bewegungen, Rhythmen: stockend, vielseitig, unruhig. Heimliche Formsequenzen fesseln den Blick, aber sie schreiben nichts vor. Sie weiten einzelne Einfälle ins Große, schaffen Beziehungen, entfalten neue Möglichkeiten, bereiten neue Spannungen vor: Da konturieren z.B. Bauten von Schwarz eine gelbe Farbsäule. Das Schwarz verliert sich aber dann im Flächigen, markiert dort verwickelte Gegensätze.

Oder es werden dynamische, aufragende Keile gehalten von einem Komplementärfarbenstamm, überragt und besänftigt von einer großen roten, warmen Farbeinheit. Die pathetische Geste wird dazu noch aufgeweicht, zersetzt, gebrochen, denn durchscheinende Farbflächen, Gitter, Raster, rudimentäre Ornamente, spannungsvoll abgesetzte Flecken bereichern und vertiefen den ersten Eindruck, irritieren, lenken ab vom Zentrum. Eintrübungen, Dunkelheiten treten hinzu und schaffen Gegengewichte zu den intensiven Farblichtungen.

Oder es wird ein grobes, schweres Verhau baumähnlicher Gebilde bunt bis zum Aufbrechen der Gestalten. Äste, Stümpfe verwandeln sich in reine, willkürliche, wirbelnde Form, die groß und fantastisch so gegen die Sehgewohnheit gedreht wird, dass Schnitte und Krisen gesehen und erlebt werden.
Jedes Bild hat so seinen thematischen Kern.
bild 2 3Baumdiagonale
1990
Öl / Leinwand
150 x 120 cm

Das mag im Vertrauten ansetzen, Elemente einer natürlichen Umwelt enthalten, in unbesorgter Leichtigkeit an klassische Stillleben erinnern; die Assoziationen können hinüberspielen in Vorstellungen von konkreter Räumlichkeit und Dinglichkeit, ja das Dingliche kann sogar einmal als Holzklotz im Bild Gestalt annehmen, -entscheidend ist immer, wie die Farbe daraus das Bild entwickelt: geschichtet, gedeckt, gebrochen, nuancenreich und trotzdem kräftig wird sie eingesetzt. Mit deutlichen Kontrasten und schwierigen, beißenden Partien bildet sie die eigentliche Struktur, häuft oder lockert Reiz und Information, greift aus in große Gesten, führt durch Felder mit Sequenzen erkennbarer Einzelformen. Keine Zeichnung leitet oder begrenzt die Farbe. Sie selber entlässt um sich die Ordnungen. Ständige hohe Mitteilungsbereitschaft ist jeder Bildstelle eigen. Sensibel, offen, schwierig sind die Übergänge, Wechsel, Kontraste.

Vieldeutig, beziehungsreich ist alles in diesen Bildern. Aber keines verliert sich vage ans Grenzenlose. Weder der Bildaufbau aus einzelnen Flecken und Flächen lässt das zu, noch die Kompositionen insgesamt. Der Rand ist die magische Grenze, innerhalb derer sich die Bilder erfüllen. Sie wollen nicht über diese Grenze hinausweisen, sie wollen nicht durch willkürliche Schnitte ihre fragmentarische Unzulänglichkeit zur Schau stellen. Ehrets Bilder wenden sich gegen eine solche Zufälligkeit. Er will bewusst Reichtum erfahrbar machen. Er setzt und schafft Mehrdeutigkeit. Es wundert nicht, wenn er darauf hinweist, dass er bei der Arbeit an seinen Bildern diese in verschiedenen Arbeitsphasen verschieden hängt, um gleichsam das Bild von allen Seiten her zu entwickeln. Seine Bilder sollen nicht ausschweifen. Auffahrende, exzentrische Bewegungen sollen abgefangen und umgelenkt werden. Was als Baum angedeutet ist und gewohnheitsgemäß seine Ausbildung in Geäst und Krone verlangt, mündet hier diffus, zerfetzt in der scheinbaren Hintergrundsfläche und muss Gegenbewegungen zulassen. Hier triumphiert die Bildfantasie über die natürliche Sehweise. Der Blick kehrt eigentlich erst ins Bild ein.
Es ergibt sich so bei Ehrets Ölbildern ein ganz besonderes Verhältnis zu Zeit und Erleben. Man möchte von der Unendlichkeit der Farbe sprechen, an der diese Bilder in besonderer Weise teilhaben, so stetig entfaltet, so konsequent mutig und schwierig angelegt und in jedem Element zugleich verdichtet und offen sind sie.

Stuttgart, 1990

Symphonie de la Foret

für Martin-Ulrich Ehret

„Allein versteckt sie sich in den Wäldern an verschlafenen Wassern“...
Alexander Puschkin

von Gerhard van der Grinten

Erst was man zu verlieren droht, das schätzt man. Waren nicht die Wälder, die großen Gehölze vor noch ein paar gut hundert Jahren völlig unbehaglich und unbehaust. Bewohnt allenfalls von Räubern, deren wenigste so romantische Empfindungen auslösen dürften, wie Freund Robin Hood und seine eher fundamentalsozialistische Kommune in Sherwood Forrest. Heimat recht behaarter, krallen- und zahnbewehrter Lebewesen, Luchse, Wölfe, Bären bis vor gar nicht allzu langer Zeit: inzwischen sickern sie aus jenen Gebieten, wo man sie nicht ausrottete, langsam wieder ein. Possierlich im Zoo, abenteuerlich im Kino. Ob man ihnen zwischen Blatt- und Wurzelwerk begegnen möchte, sie mit Appetit, die Spezies Homo Faber schlecht für solche Zwischenfälle ausgestattet, ist eine ganz andere Frage. Was wir heute vom Wald reden, ist romantische Verklärung, die dämmernde Erkenntnis ökologischen Verlustes. Wer sich einmal gründlich und ohne Straßennamen im Unterholz verlaufen hat, weiß um die Ambivalenz der Gefühle in ausgedehnten Grünflächen: von außen reizvoll Landschaft, von innen sieht man vor lauter Bäumen den Wald nicht mehr. Spätestens wenn Komfort und Tageslicht zur Neige gehen, wenn die dunkle Nacht sich füllt mit knackendem Holz, Laubgeraschel, Käuzchenrufen, undefinierbaren und noch ganz anders unheimlichen Geräuschen, mag es dämmern, dass der kultivierte Westeuropäer auch dem einheimischen Dschungel nur begrenzte Durchhaltefähigkeit entgegensetzen kann. Nachdem des Menschen Vorfahren den schützenden Wald verließen, ist er darin nur in Ausnahmefällen wieder heimisch geworden: und nicht zuletzt ist unser Sehen auf Distanz angelegt. Im Wald kommt man damit nicht eben weit und verliert leicht die Orientierung. Und doch: er ist voll Rückerinnerung an unsre kollektive Vorgeschichte: das Leben in den Kronen als glücklich- faule Primaten, die weitentfernte Ruhe seines Rauschens, Natur.

Seit der Mensch sich verstärkt für seine Umwelt interessierte, in unseren Breiten in der späten Renaissance, dem beginnenden Barock, zählt auch der Wald zu seinen Obsessionen. Gemalt, als Silhouette auf Distanz, als Landschaftszutat, Horizontlinie, aufgewühlt, erhaben, als pittoresque Idylle und szenische Kulisse. Von außen, aus dem Innen, so dass sich es zu einem höchsten halbverstellten Außen öffnet. Man hat ihn in Parks gefasst, in Kunstwald, ausgebuffte Wirkungen geplant, gebändigte Natürlichkeit, dem Bären Krallen und Zähne gezogen. Dabei gibt es zwar von Anbeginn den Versuch, den Wald als Wald einzufangen, als Summe seiner Bäume, Pflanzen, Kronen, durchbrechender Gelichte, in der Frühromantik und im Impressionismus vor allem, doch in der Regel ist das Dargestellte Staffage geblieben. Rudolf Schoofs Dschungelbilder aus den 70er Jahren sind eine der wenigen Ausnahmen: hie nun ist Gezweig, Gestrüpp und Widerleuchten, dichtes Farbenspiel. Und eher als alle Abbildung zeigt sich der Wald da im Wesen.
bild 3 1Baumpalisade
1991
Öl / Leinwand
150 x 120 cm

Martin-Ulrich Ehrets Baumbilder sind im Charakter denen keinesfalls ähnlich, vom Angang jedoch durchaus vergleichbar. Denn zuweilen jäßt sich wohl manche vegetabile und florale Form erkennen: Rindenstücke, Stammverzweigung, Astlöcher, Knospen, Muscheln auch, als handelte es sich um halb im Wasserspiegel versunkene Mangroven. Und Wasser nicht weniger als Luft spielt in den offenen Flächen eine wesentliche Rolle. Doch ist nirgends imitiert, weder in der überaus leuchtenden Farbigkeit, in der die Erdtöne, wie Ast und Zweig sie eben hätten, entschieden in die Minderheit treten und Grün eher vereinzelt aufscheint, statt Kronen und Blätterdach zu bilden. Noch in Zeichnung und Figur. Die einzelnen Bildelemente, Stämme mögen es sein, zwingend sind sie es nicht, sind klar konturiert und in zuweist einem Ton gehalten, valeuristische Abstufung findet selten statt, eher, dass gelegentlich eine Partie nicht deckend gemalt ist, bei einem Auftrag, der überwiegend dem pastosen Einsatz der Farbe den Vorzug gibt. Oder an anderer Stelle ist die Paste wieder abgeschabt und lässt darunter Spuren der vorhergehenden Schicht erkennen. So werfen sich denn auch die Oberflächen in deutliches Profil, Relief von Duktus und Pinselspur, Anhäufung von Farbe, weniger flüssiger Verlauf. Selten lösen sich die mit breitem Zug gemalten Flächen auf, wenn eine rhythmisierende Übermalung, Striche, Tupfen, Kürzel sie tangiert. Der Zugriff ist genuin malerischer, und entschieden furios.
bild 3 2Baumpalisade - Details
1991
Öl / Leinwand
150 x 120 cm

Nicht zuletzt darin verrät sich deutlich, dass kaum ein Bild in einem Zugriff und Angang seine Gestalt erhalten hat, vielfach sind sie wieder vorgeholt und erneut übermalt worden, um den entschiedenen Punkt der größten Stimmigkeit je zu erreichen. Das mag sich manchmal auch über Jahre hinziehen. So ist beiläufig und vage und ungeformt nichts hier. Was geschieht, konzentriert sich häufig um die Bildmitte, parallele Erscheinungen wie Balken, manche wie zusammengebunden und gefasst. Andre kreuzen sich hoch und quer und vergittern den Gang in die Bildebenen, ohne dass das bestimmte Gefühl für Raumtiefe darum je aufgegeben würde. Gebautheit, Waldarchitektur, Durchblicke auf Dahinterliegendes, wecken die Neugier, tiefer zu forschen, den Wunsch, sich einzulassen. Die fulminante Farbigkeit mit ihrer Bevorzugung des Schwarz-Weiß und der reinen Klänge, den reinen, eher strahlenden als lauten Kontrasten tut das Ihrige hinzu. Dabei an die Paletten eines Hölzels, Baumeisters oder Nicolas de Staels zu denken, wäre keinesfalls unstatthaft.
Was gewesen war, sich anzueigenen, um Neues, Eigenes zu schaffen, ist legitim.

Deutlicher als in den monumental großen Arbeiten prägt sich in den kleinen Bildern das Prinzip des Wachsens aus: ihren Ursprung haben sie ganz pragmatisch in den Pappdeckeln, die zum Abstreifen dienten und die ausgewischte Farbe von Pinseln und Spachteln tragen; und manche zeigen davon ganze Placken und Gebirge, Canyons eingeschrieben. Sind aber längst nicht purer Zufall geblieben, sondern Experimentierfeld für die großen, Erwiderung durch zugefügtes, da sind die Formen amorpher, Verläufe fließender, die Skalen eingeschränkt auf wenige bestimmte Töne und Ableitungen, die Tonwerte weniger klar. Unregelmäßige Trocknung und Gerinnungsränder, magerer Strich, wo die Farbe endete, prägnant die Zutat, kompositorisch weniger streng, nicht minder schlüssig; die Alchemie, aus der das Größere erblüht und wächst, zu Bildern, zu Bäumen, zu Verdrauten.

Stuttgart Bad-Cannstatt, 2001

Bäume gereiht, wuchernd, ragend, gefallen, geschichtet, gestapelt.

von Dr. Tobias Wall

Seit vielen Jahren beschäftigt sich Martin-Ulrich Ehret mit genau einem Thema: „Baum“ bzw. Wald. Ein einziges Thema fast 30 Jahre lang ? Man könnte meinen, dass sich der Maler auf einem ziemlich reduzierten Aktionsfeld aufhält. Doch das Gegenteil ist der Fall. Wer Ehrets Arbeiten über die Jahre verfolgt, sieht, welch unendlich reiches Spektrum an Inspirations-, Gestaltungs- und Ausdrucks-möglichkeiten diese Thematik birgt. In den 80er Jahren dominierte in seinem Werk noch eine gegenständlich malerische Auseinandersetzung mit dem Baum, doch mit der Zeit suchte sich der Künstler immer freiere Wege des künstlerischen Ausdrucks, ohne jedoch den Bezug zu seinem Grundmotiv jemals völlig abzulegen. Betrachtet man sich seine Bilder, bemerkt man, dass der Maler Aspekte des Phänomens Baums oder Waldes aufgreift, die jeden faszinieren, der mit offenen Augen durch die Natur geht. Angefangen bei den materialen Qualitäten der Oberfläche von Bäumen, den verschiedenen Arten der Rinde, von glatt über porig bis rissig und zerklüftet mit Astlöchern und Narben. Ebenso beeindruckend ist auch die Vielfalt an kraftvollen skulpturalen Formen, die der Wald bietet, der stolze Stamm, der zersplitterte Stumpf oder der torsoartige Strunk, Bäume gereiht, wuchernd, ragend, gefallen, geschichtet, gestapelt. Hinzu kommt die ständig wechselnde Lichtsituation, das dramatische Spiel von Licht und Schatten, das man nirgends so eindrücklich erleben kann wie im Wald. In unermüdlicher Arbeit hat sich Martin-Ulrich Ehret einen einzigartigen Blick auf diese sinnliche und formale Pracht des Waldes erarbeitet und ein Repertoire gegenständlicher und abstrakter Grundmotive entwickelt, die er in seiner Malerei aufnimmt und in freie Kompositionen überführt. So bleibt er auch bei seinen neuesten abstrakten Arbeiten dem Thema Baum treu. Er stellt hier allerdings nicht mehr Bäume dar, sondern führt dem Betrachter deren formale Essenz vor.
bild 4Pastorale
2007
Öl / Leinwand
145 x 115 cm

Ein beeindruckend konsequentes Werk, selbst gewachsen wie ein Baum, beharrlich, langsam, kraftvoll.

Ellwangen, 2007

Symphonie d 'apres les Metamorphoses

für Martin-Ulrich Ehret

„Nur von vielen Wasserfällen, die man aber nicht sehen konnte, war ein unaufhörliches Rauschen tiefer im Wald“...
Joseph von Eichendorff

von Gerhard van der Grinten

Alles wandelt sich fortwährend: und es schält sich heraus, was inwendig vorhanden war. Aber nicht ausgesprochen. Doch alles, was sich unerwartet manifestiert, ist angelegt gewesen. Nichts, was entstünde, wäre völlig neu. Es zehrte immer von dem, woraus es sich entwickelt hat. Andererseits ist nichts, was ist, völlig definit. Denn sonst wäre alle Evolution nach dem Schlüpfen des Imago aus dem Kokon der Puppe vollendet gewesen. Und am Ende. Dennoch ist alles, was sich verwandelt, das, was war, und das, was werden wird, aus dem gleichen Stoff! Mehr noch: aus demselben. Denn nichts, was war, geht wirklich verloren. Und es kommt nichts hinzu. Und was ist, das ist immer schon gewesen, und wird immer sein. Wenn auch nicht zwingend in seiner augenblicklichen Gestalt.
Die Gesetzte der Physik gelten im Ähnlichen wie im Unvertrauten, sie gelten in der Wahrnehmung nicht anders als im Stoff. Und sie gelten ebenso für alle Kunst. Denn da auch die Welterfahrung und Weltbewältigung ist, unterliegt sie der Welt. Und die wird sein, auch wenn wir nicht mehr sind, anders vielleicht. Und wenn die Kunst nicht mehr existiert, die augenblickliche, die vergangene und die zukünftige: wie mag sich deren Dasein dann wohl verwandelt äußern? Als Gestalt gewiss, doch als welche?
bild 5 1Große Carnac-Bäume Detail
2008
Öl / Leinwand
120 x 240 cm

Da aber alles Anlass ist, oder es doch strenggenommen Anlass werden könnte, ist dieses alles ebenso unvernutzbar wie der Stoff: will sagen, was immer auch den Künstler anrührte, als Form, als Inhalt, als Agens, reichte für weit mehr als eine Epoche, einen Stil, ein Lebenswerk: Morandi genügte eine Versammlung Stillleben, Modigliani Akt und Antlitz, Rothko ein waagerechtes Balkentriptychon. Und manchmal waren es auch nur deren zwei.
Wahrnehmung verändert die Betrachtung. Der Schöpferische ändert noch seine Schöpfung darin, dass er sie beschaut. Gelegentlich, verblüfft, erstaunt. Und darin setzt sie sich verändert fort. Und verwandelt fortwährend auch den, der sie geschaffen hat. Wie mögen wohl die Götter vor der Erschaffung der Welt ausgesehen haben.
Ovid jedenfalls hat in seinem Werk nicht nur die Verwandlung, ihr Wesen, ihre archetypischen Gestalten so nachhaltig in die abendländische Kulturgeschichte eingeführt, daß sie bis heute seinem Namen anverwandelt bleibt, sondern die Archetype an sich benannt: die Metamorphose. Zuweilen ist sie selbst Bildthema geworden, in den Werken der Manieristen und Surrealisten, und ihren Chimären.

Dass Martin-Ulrich Ehret sich, wem er den Begriff des Metamorphorischen bemüht, in eine Traditionslinie begibt, hat gar nichts ungefähres. Im Gegenteil. Nur der Halbgebildete und der Aufschneider unter den Künstlern tut gewöhnlich so, als sei seine Arbeit ganz ohne Abkommenschaft und Vorbilder entstanden. Denn wir sind keine isolierten Erscheinungen in Raum und Zeit. Wer anderes behauptet möchte sich genialisch interessant machen: gewöhnlich hat es derjenige welcher auch nötig. Nein, Verwandtschaften sind in diesen Werken so wenig geleugnet, wie ihr Thema. Und das, die Bäume, zieht sich, wenn auch nicht durch ein halbes Menschenleben, so doch durch mittlerweile durch sein Künstlerdasein. Begründen müsste man es nicht, es beweist sich durch seine offensichtliche Unverbrauchbarkeit.
Formal gesehen mag man im Einsatz von Lineament und Flächenfüllung an Beckmann denken, die süddeutsche Tradition der zunehmend Ungegenständlichen um Kerkovius, Hölzel, Baumeister, die ingeniösen Substanzumwandlungen eines Ernst’s. Nähe sagt aber weniger aus über den, der sie sucht, als den, der sich furchtsam meidet: Angst vor Nachbarschaft belegt stets den Mangel an eigener Souveränität. Denn auch die Kunst anderer kann Anlass sein, und Auslöser für ein neues eigenes. Sofern dies denn dann nicht nur imitierte.
bild 5 2Bäumetrio
2008
Öl / Leinwand
130 x 110 cm

Aber Imitation haben diese Arbeiten nie nötig gehabt. So wenig, wie sie sich strenggenommen auf eine Disziplin festlegen ließen: denn sie bemühen Malerei und Materialcollage, Druck, Frottage, Photographie, Zeichnung; Stoff und Fläche, Raumdurchstellung und nicht selten eine Vielzahl von Erscheinungen zusammen. Das nimmt den Werken Homogenität, nicht aber Schlüssigkeit; auch im Disparatesten, im Changieren zwischen dem Übereinander von Ebenen, zwischen Erkennbarem und abstrahierender Verfremdung gewinnt sich Form.

Das ist ja auch nicht Baum als Baum, das ist stets Baum als Bild. Und da er Bild wird, wird er ein eigenes und ist dasselbe nicht länger mehr: das Bild eine eigene Identität, selbst wo es wirklichen Schnitt durch Wachstumsringe, Maserung und Borkenstücke vereinnahmt. Und wo nicht, ist es zunächst Malerei und Zeichnung, farbiger Umriss, leuchtende Fläche, flamboyanter Kontrast intensiver Farbigkeiten, Konsonanz von wenigen. Ist durchstellte Bildebene, vertikal aufragend der Wuchsrichtung nach, gequert von Unterholz und Geäst. Zuweilen so dicht, dass man den Wald vor Bäumen nicht sähe. Dann anderwärts eröffnet auf Lichtung, Hain und Hügel. Und scheint den Sehnsuchtsort erinnernd, der der Wald seilt der Zeit der Empfindsamkeit gerade den Deutschen gewesen ist, und ungleich stärker noch in der Romantik. Zuvor war er ja eher unheimlich, bedrohlich, bevölkert bestenfalls von räuberischem Gesindel und wildem Getier und der Aufenthalt darin ein heikles Unterfangen, nicht selten lebensgefährlich.
So sind auch hier die Augen, die manche Wälder bevölkern, als schöne Astlochaugendoublierung, nicht immer behaglich, da wo sich die aufragenden Stämme in architektonische Türme verkehren, verlorene Seelen gar.
bild 5 3Große Carnac-Bäume
2008
Öl / Leinwand
120 x 240 cm

Und die, die den Wald bewesen, Pferde, und wenn es nicht eher Einhörner wären, Faunesse, Daphnen, zitieren zwar das arkadische Personal, doch als idyllisch möchte man sie schwerlich durchgehen lassen. Zu herb, zu ruppig ist der Zugriff gewöhnlich.
Dem formalen Impuls folgt er, narrativ gibt er sich nicht.

Ragen und kreuzen: die dynamischen Möglichkeiten sind unendlich: noch in der Lotrechten gekippt, wenn Senkrechte und Horizontale ihre Plätze tauschen. Die Ränder touchierend oder konzentriert vor ihnen innehaltend, so dass die Grenze zwischen dem, was Landschaft gewesen wäre, und dem, was die Ruhe eines Stilllebens ausmacht, verschwimmt. Landschaft im klassischen Sinne findet sich hier ohnehin nicht: das mag erstaunlich anmuten. Aber geht es um Landschaft? Oder nicht doch vielmehr um Aufwuchs, seine Geschichte, seine Hinterlassenschaft. Um Gehölz.
Physiognomien sind selten, Blicke häufiger, die Spiralformen von Schneckenhäusern, Muscheln, auch wenn man letztere im Gefolge der Bäume wenig erwartet hätte. Architektur dann gelegentlich, mit der Vegetation teilt sie die Richtungen, vermutlich hat sie sich der ohnehin nur entlehnt. Beides ist sich ähnlicher, als gedacht. Und beides viel mehr Ereignis als Dinglichkeit.
Joseph Beuys, einmal mehr, hat es, angesichts zweier Bäume vor dem Fenster der Kunsthalle, in der er gerade eine Ausstellung seiner Werke einrichtete, vollendet und versonnen auf den Punkt gebracht: etwas Schöneres als diese beiden Bäume könnte man als Künstler gar nicht machen. Womit er Recht hat. Genauso schön geht es allerdings schon.

Schwäbisch Hall, 2011



Publikation: Katalog

katalog

Martin-Ulrich Ehret
Bäume-Bilder 1990-2000
80 Seiten mit 40 Abb., meist farbig
Text von Marc Gundel, gebunden,
erschienen 2000

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